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Der ungebogene Rachmaninow

Updated: Nov 9, 2023

Der ungebogene Rachmaninow in Zürich und Luzern


Der Konzertbetrieb unterliegt bezeichnenden Modewellen, resp. reagiert wie Schafherden. Warum soll es in der Kunst anders sein als in der Wirtschaft – es geht ja um den in der Herde Halt suchenden Menschen. Seit Freud wissen wir, dass der Trieb stärker ist, als der freie Geist. Rachmaninow reitet auf einer Welle und boomt – Beethoven, Brahms und Mahler droht die Abgedroschenheit. Ob der russische Tastenlöwe den Altmeistern Stand halten kann – die FAZ glaubt daran: (31.3.23 Nr. 77 Seite 11: Ungebogene Musik)

Gerne lese ich was der Redaktor Jan Brachmann alles über den russisch-amerikanischen Musiker weiss und die Statements und Liebesbekundungen von meinem Tessiner Kollegen Francesco Piomentesi, dem Chefdirigenten in meiner Heimatstadt Paavo Järvi und dem berühmten Dirigentenstar Vladimir Michailowitsch Jurowski, die Brachmann seiner These beseite stellt.


Keine Angst, ich mache nun als Reaktion auf Ihre Hymnen auf den grossen russisch-amerikanischen Pianisten und Komponisten, kein Bashing alter Adornoscher Schule. Mir als Klarinettisten, Komponisten und ausgebildeten Klavierlehrer kommt es ja ausgesprochen entgegen, dass ein Mensch sowohl ein Instrument meisterhaft beherrschte und seine eigene Tonsprache entwickelte. Er geniesst meine volle Bewunderung!


Erstaunlich ist nun aber, wie Rachmaninow zumindest in der Schweiz eine übermässige Beachtung findet (notabene auch viel Steuergelder erhält) und den Pianisten und Dirigenten, die berufsmässig dem Könner nahestehen, eine unwidersprochene Plattform gegeben wird. Es geht nicht um die Entfachung einer Polemik alter Art, sondern um ein Prinzip, das mir in meinem Gymnasium in Baselland beigebracht wurde: Die Dialektik. Es geht um These, Antithese und Synthese. Interessanterweise hat sich in meinem Geburtsland Schweiz ein bedauerliche Demokratiemüdigkeit eingestellt und über Kunstthemen wird nicht mehr debattiert. Wir kommen nur zu uns weiterführenden Synthesen, wenn wir dialektische Diskurse führen.

Die Klassik hat hier grossen Nachholbedarf. Mantraartig muss ich im Moment wiederholen, dass es ganz dringend ist, die Komponist:innen und Theoretiker:innen an Bord zu holen. Es reicht nicht, einfach den Pianisten und Komponisten alleine Gehör zu verschaffen, dass diese ihre Liebe bekunden können und vor einem grossen zahlenden Publikum ausbreiten können. Eine Liebe, die ich ihnen gönne und auch dahingehend verstehen kann, dass mir als Klarinettisten alle Komponisten, die toll für mein Instrument schrieben (glücklicherweise viele Meister mit hervorragenden Werken) nahestehen und besonderes Interesse hervorrufen.


Liebe FAZ, liebe Tonhalle und Oper Zürich, darf ich mit Verlaub etwas mehr Distanz und wissenschaftliche (insbesondere ästhetische) Tiefe einfordern? Darf ich sagen, dass es eine künstlerische Legitimation für ein Rachmaninow-Festival braucht, wenn man gleichzeitig viel Anderes und Dringendes beiseite lässt? Es reicht nicht anzufügen, dass Rachmaninow für Pianisten eine «rein physische, eine kaum zu beschreibende Genugtuung, seine Partituren pianistisch in Klang zu verwandeln» ist (Piemontesi). Es reicht nicht zu schreiben, dass man «auf Bildern von Rachmaninow einer starken Persönlichkeit mit schönen und gefühlvollen Augen begegnet» (Järvi) Es reicht nicht, dass man schreibt, «dass es seltsam war, wie sich die Erinnerungen an das vor 32 Jahren Gefühlte und Durchlebte mit den Erfahrungen der jüngsten Zeit mischte und in der Musik seine Bestätigung fand» (Jurowski). Um hier nicht falsch verstanden zu werden, diese persönliche Apologetik ist legitim und Rachmaninow soll und darf auch weiter interpretiert werden. In der Kunst braucht es aber mehr als Apologetik: Es braucht ein diskursives Ringen um ästhetische Fragen und insbesondere einen Bezug und eine Notwendigkeit zum Jetzt.

Lieber Kollege Francesco Piemontesi, ich wohne und komponiere zwischen ihrem Ursprungsort Tenero und ihrer Wirkstätte Ascona im wunderschönen Minusio. Ich bat um ein Gespräch mit Ihnen, sie haben abgelehnt. Darf ich auf diese Art erneut um eine Gespräch bitten? Denn ich lese schon mit grossem Erstaunen, dass «schliesslich von Interpreten unserer Zeit gemeinhin gefordert wird, sich mit dem immer gleichen Kanon hundertfach vollendet aufgeführten und eingespielten Werken stets neu und originell zu positionieren». Wer verlangt da von wem etwas? Wir Interpret:innen sind freie Künstler:innen! Zudem sollten wir Wittgenstein zu Herzen nehmen und nur dann etwas sagen, wenn wir etwas zu sagen haben. Es ist ein Problem, dass die Interpretationskunst, die im 20. Jahrhundert eine Hochblüte erlebte, unweigerlich in eine Falle getappt ist. Zuviel Hervorragendes ist getan worden und insbesondere in Einspielungen dokumentiert. Aufführen sollen wir es unbedingt, aber ob staatlich finanzierte Aufnahmen vom Immergleichen legitim sind, muss auch begründet werden. Interpreten müssen sich zudem Fragen, warum sie etwas aufnehmen und herausgeben. (Im Gegensatz zu den Orchestern finanzieren wir unsere Aufnahmen wenigstens selber). Wir Interpreten haben aber noch eine weitere Möglichkeit: Wir können Werke von lebenden Komponisten uraufführen und zu Klassikern machen!

Diese obengenannte Falle befeuerte meine kreative Seele, den beschwerlichen Weg des Komponisten beharrlich zu gehen: In der Komposition gibt es nur das leere weisse Partiturblatt! Das kann beängstigend sein. Wenn man Ideen hat und im Rausch oder modern gesagt Flow seine Musik hinschreiben kann, dann ist das eine grosse künstlerische Befriedigung. Noch grösser ist jene, wenn die Musik von schöpferischen Interpreten erklingt. Darauf sind wir lebenden Komponisten abhängig. Abstinenz, Desinteresse und Inkompetenz, wie Gesprächsverweigerung und nicht beantwortete Briefe sind da heute eine traurige Realität.

Maestro Järvi, verantwortlich dafür, was in der wunderbar renovierten Tonhalle aufgeführt wird, hat nun beschlossen, dass meine Werke dort nicht aufgeführt werden sollen. Der Este darf dafür allerlei estnischen Kolorit aufführen. Es interessiert ihn nicht, dass das vor Jahren im Auftrag ihres Starfagottisten in der Tonhalle, dem hervorragenden Matthias Racz, entstandene Fagottkonzert «Deus ex machina» nicht erklingen darf in der Heimatstadt des Schöpfers. Teilfinanziert wurde es durch die Stadt Zürich. Dass für die Jetset-Pultlöwen ihre gesammelten Chefposten nur Stationen auf ihrem weltumspannenden Businesstrip sind, wird so offensichtlich. Kunst als verkappter und verbogener Egotrip.


Als Komponist:in kann man nur wachsen, wenn die Werke gut aufgeführt werden.

Mein Professoren-kollege auf dem Fagott an der ZHdK hat mir schon bestätigt, dass «Deus ex machina» eine echte Herausforderung ist – so wie er es gewünscht hat.

Da gibt es doch noch eine Verbindung zu Rachmaninow. Auf der Klarinette habe ich Paganini-mässiges schon komponiert und eingespielt, da liegt mir das Fagott halt nahe.

Wäre es nicht zu begrüssen wenn die Zürcher Tonhalle, mit dem ihm anvertrauten Steuergeld, nicht nur Rachmaninow ehren, sondern sogar einem Zürcher Werk eine Chance geben würde? Denn eines ist klar: Unsere Orchester in Zürich sind absolute Weltklasse – für einen Komponisten gäbe es nichts Schöneres als sein Werk als ungebogene Musik hören und sich so in seiner Heimatstadt zeigen zu können.


5.4.23 Matthias Mueller da Minusio

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